Leseprobe

Bei ihrem Podcast „ZWEI WEISSE ALTE FRAUEN“ hat Beate mich ja zu meinem Buch über die Alzheimererkrankung meiner Mutter befragt und sie hat auf ihrer Seite auch eine Leseprobe… ja was? Früher hieß das gedruckt, wie heißt das heute? Gepostet? Ja, so ist es wohl richtig, also sie hat eine Leseprobe gepostet. Da ist mir klar geworden, ich muss das mit der Veröffentlichung jetzt angehen. Wo? Wie? Ich bin so unsicher. Bei Amazon? Wirklich? Es wird ein eBook, denke ich jedenfalls. Und ich kann es auch als PDF zum Download bereitstellen, aber wie rechne ich das dann ab?

Fragen über Fragen, die ich vor mir herschiebe, aber es muss gemacht werden. Wer kann mir mal ein Päckchen Motivation schicken? Oder am besten gleich zwei.

Hier also die Leseprobe:

Vorwort

“Du stehst in einem wirbelnden Nebel und im Halbdunkeln. Du gehst umher an einem Ort, der entfernt vertraut scheint und weißt dennoch nicht, wo du bist. Du vermagst nicht zu erkennen, ob es Sommer ist oder Winter, Tag oder Nacht. Bisweilen lichtet sich der Nebel ein wenig, und du bist in der Lage, ein paar Gegenstände wirklich klar zu sehen. Aber sobald du dich zu orientieren beginnst, wirst du überwältigt von einer Art Dumpfheit und Stupidität; dein Wissen schwindet, und abermals bist du aufs Äußerste verwirrt. Während du im Nebel herumstolperst, hast du den Eindruck, als umeilten dich Menschen, schnatternd wie Paviane. Sie scheinen so energiegeladen und zielgerichtet, aber was sie beabsichtigen, bleibt unverständlich. Hin und wieder schnappst du Bruchstücke einer Unterhaltung auf und hast den Eindruck, dass sie über dich sprechen. Bisweilen erblickst du ein vertrautes Gesicht, aber sobald du dich darauf zu bewegst, verschwindet es oder verwandelt sich in einen Dämon. Du fühlst dich verzweifelt, verloren, allein, bestürzt, verängstigt. In diesem furchtbaren Zustand stellst du fest, dass du deine Blase oder deinen Darm nicht unter Kontrolle hast. Du verlierst völlig den Halt. Du fühlst dich schmutzig, schuldig, beschämt. Es gleicht so wenig dem, was du einmal warst, dass du dich nicht einmal selbst kennst.”

Tom Kidwood, englischer Sozialpsychologe und Psychogerontologe in seinem Buch über Demenz Alzheimer verändert den Menschen, verändert die Familie.

Liest man etwas über diese Erkrankung oder allgemein über Demenz, ist immer wieder die Rede von der „Angehörigenkrankheit“, ganz so, als seien die Angehörigen die Kranken und nicht die Erkrankten selbst. Agneta Ingberg schrieb in ihrem Buch »Am Ende des Gedächtnisses gibt es eine andere Art zu leben«, dass sie das wütend macht. »Lasst mich selber krank sein«, schrieb sie. Denn es sei ja immer noch sie, die krank sei und niemand anderes. Das stimmt. Und vielleicht sagt man deshalb so leichtfertig die »Angehörigenkrankheit«, weil die Erkrankten irgendwann nicht 2 ​ mehr selbst berichten können, dann sind es die Angehörigen, die über die Krankheit reden und darüber, wie es ihnen damit geht. Auch Agneta konnte ihr Buch nicht mehr alleine schreiben, sie fing an, ihre Sprache zu verlieren und so half ihr eine Freundin. In diesem Buch geht es ausschließlich um die Angehörigenkrankheit, Alzheimer aus Sicht der Familie, die die Erkrankte begleitet und versucht, damit klarzukommen. Es geht um meine Mutter, die 2014 an Alzheimer verstarb. Es geht um die knapp fünf Jahre, die wir noch gemeinsam hatten, Mutter und wir, ihr Mann Richard, unser Vater, es geht um mich, ihre älteste Tochter Hella, und Betty, meine sechs Jahre jüngere Schwester. Fünf Jahre, gerechnet von der ersten vagen Vermutung an, auch wenn damals keiner von uns an Alzheimer dachte. Mutter wurde vergesslich, wie das so ist im Alter. Aber Mutter wurde nicht bloß vergesslich. Mutter hatte Alzheimer. Das veränderte alles. Während ich das niederschreibe, vermisse ich sie. Nein, sie war nicht das, was ich mir unter einer »guten Mutter« vorstellte, sie war oft egozentrisch und ich oft unglücklich. Es gab ebenso schöne Momente, aber unsere Beziehung war von Anfang an belastet. Es hatte seine Gründe, die ich ihr nicht nachtrage, und da war es ausgerechnet der Alzheimer, der uns versöhnte. Ohne dass wir es bemerkten, brachte er uns einander näher, so nahe, wie wir es zu ihren gesunden Zeiten nie gewesen waren.

Kapitel 2

Begonnen hatte alles vielleicht zwei Jahre zuvor, keiner bemerkte diesen Anfang, weil niemand wusste, dass etwas anfängt, etwas Neues. Etwas, was unser aller Leben verändern sollte. Mutter war eine leidenschaftliche Handarbeiterin, Zeit ihres Lebens hat sie gestrickt, gehäkelt, gestickt, geknüpft und genäht, die wunderbarsten Dinge gezaubert, die ihr Heim verschönerten. Als kleines Mädchen trug ich die schönsten Kleider aus hübschen Sommerstoffen, ich höre noch heute die bewundernden Ausrufe der Nachbarinnen, wenn Mutter ihre neueste Kreation an mir vorstellte. Und seit mehr als zwanzig Jahren ist sie eine begeisterte Quilterin, ihr Haus zieren viele Quilts, sowohl an den Wänden als auch auf dem Sofa als Decke, an denen sie akribisch und mit nicht nachlassender Mühe Abend für Abend gearbeitet hat.

Seit einem halben Jahr saß sie an einem Quilt, der nicht fertig werden wollte. Immer wieder musste sie die Nähte auftrennen, die kleinen sechseckigen Stoffstückchen neu sortieren, erneut zusammen nähen, wieder war es nicht in Ordnung, auftrennen… bis uns allen auffiel, da stimmt doch etwas nicht. „Annemarie, was ist“ fragte Vater leichthin, „wieso will es dir nicht gelingen?“ Mutter war ratlos, irgendwas stimme mit dem Stoff nicht, oder sie habe sich im Muster vertan, mit gerunzelter Stirn blickte sie auf ihre Handarbeit und versuchte es dann erneut. Bis Vater, der von solchen Arbeiten absolut keine Ahnung hat, auffiel, dass Mutter es einfach nicht mehr konnte. Sie saß konzentriert an ihrem Handarbeitstischchen, sortierte die kleinen Stoffstücke, aber abends sah das, was sie bearbeitete, noch genauso aus wie am morgen. Es gelang ihr nicht mehr.

Das war zwar verwunderlich, aber richtige Sorgen machte sich keiner. Die Quilts gelangen halt nicht mehr. Wir haben alle nicht weiter darüber nachgedacht. Mutter war unermüdlich in ihren Versuchen, aus dem Durcheinander an Stoffstückchen einen Quilt zu fertigen, aber niemand von uns fragte genauer nach, vielleicht weil wir uns schon damals vor einer Antwort fürchteten. Aber auch, weil es Mutters Hoheitsgebiet war und wir dort noch nie mitreden konnten.

Lange Zeit war das Quiltproblem das einzige. Und weil solche filigranen Quilts zu erstellen zudem äußerst kompliziert ist, schoben wir es auf das fortschreitende Alter, auf ihre schlechter werdenden Augen, auf alles mögliche Erklärbare, aber nicht auf geistigen Verfall. Daran dachte keiner, wollte keiner denken, weil es undenkbar war. Mutter verfällt nicht. Mutter wird alt, ja, aber sie verfällt doch nicht.

Dann kamen weitere Ereignisse hinzu, die zunächst nur ihr und dann zunehmend uns allen den Alltag erschwerten. Vaters Treffen mit seinen Freunden aus dem Rheinland stand an. Sie trafen sich alle halbe Jahre in dem Wochenendhaus von einem von ihnen und verbrachten dort einige Tage gemeinsam. Dies war schon viele Jahre so und auch Mutter kannte seine Freunde. Mit einem hatte er vor vielen Jahrzehnten sogar seine Lehre gemeinsam gemacht.

Ich wollte diese Gelegenheit nutzen und mal ein paar Tage nur mit Mutter alleine sein. Keiner sprach das Wort Demenz aus, niemand wollte so recht daran glauben, dass Mutter nicht mehr alleine zurecht kam, aber die Familie hatte sich stillschweigend darauf geeinigt, Mutter nicht mehr alleine zu lassen. Ich wollte am kommenden Tag früh aufbrechen und um die Mittagszeit bei den Eltern ankommen, damit Vater rechtzeitig losfahren konnte. So war es verabredet. Ich bereitete zu Hause die Reise vor, da klingelte das Telefon und ich hatte eine völlig aufgelöste Mutter am Apparat. Sie verstehe nicht, wieso Vater schon gefahren sei, wo ich doch erst morgen käme und der Hund würde ihr doch weglaufen und wieso er sie alleine lasse. „Mama, dich lässt keiner alleine“, entgegnete ich leicht verwirrt, „Vater ist bestimmt einkaufen, er fährt doch erst morgen, erst nachdem ich da bin.“ Warum er ihr das denn nicht gesagt habe, warum er sie so im Ungewissen lasse jammerte sie, wann ich denn wieder nach Hause fahren würde, ob sie bis dahin alleine sei. Ich erklärte ihr nochmal alles ganz genau, konnte mir aber nicht recht einen Reim darauf machen, wo Vater geblieben sein konnte? Wir beendeten unser Gespräch und kurz danach rief Vater an, auch er war verwirrt, Mutter sei bei seiner Heimkehr vom Einkaufen so aufgeregt gewesen, weil sie Angst gehabt hätte, er sei schon gefahren. „Aber wir haben doch alles schon hundert Mal besprochen“, sagte er verunsichert, „wie kann sie nur glauben, ich fahre los, ohne mich zu verabschieden?“.

Als ich tags drauf bei den Eltern eintraf, war alles vergessen. Mutter war fröhlich, wir verabschiedeten Vater und machten uns einige schöne Tage. Ich kümmerte mich um unsere Hunde und bekochte Mutter und mich, was ihr sichtlich gefiel.

Und dann, Vaters Reise lag einige Wochen zurück und ich war wieder zu Hause, konnte Mutter auf einmal mit dem schnurlosen Telefon nicht mehr telefonieren. Wenn dieses Telefon in der Ladestation stand und ein Anruf einging, dann brauchte sie es nur aus der Station herausnehmen und schon hatte sie den Anrufer am Ohr. Lag es jedoch daneben, musste sie erst eine Taste drücken. Diesen Unterschied hatte sie auf einmal vergessen. Sie drückte immer auf die Taste, auch wenn das Telefon in der Ladestation stand. Und so kam es, dass man oft anrief, Mutter atmen hörte und dann war das Gespräch auch schon wieder unterbrochen. Vater brauchte eine Weile, bis er verstand, wie es passieren konnte, dass Mutter die Gespräche unterbrach. Wir Töchter und die Enkelkinder riefen oft an und immer wieder kam es vor, dass Mutter das Gespräch wegdrückte. Vater versuchte ihr jedes Mal erneut zu erklären, was sie falsch machte bzw. wann sie nicht auf die Taste drücken durfte. Es kam regelrecht zum Streit, weil Mutter sich keiner Schuld bewusst war. „Das Telefon klappt nicht!“ rief sie dann wütend. Warum solle immer alles nur an ihr liegen?

Zunehmend wurde nun auch das gemeinsame Einkaufen für Vater zu einer Gratwanderung. Mutter packte den Einkaufswagen voll mit Dingen, von denen genug zu Hause in der Vorratskammer waren. Von ihrer geliebten Orangenmarmelade hatte sie bereits ein Dutzend Gläser, doch jedes mal, wenn sie einkaufen fuhren, kam ein weiteres hinzu. Reden nutzte nichts, Mutter wurde dann furchtbar wütend und raunzte ihren Mann an, sie sei doch nicht blöd und er solle sie in Ruhe einkaufen lassen, sie wisse, was sie zu Hause habe und sie wisse auch, was sie noch benötige. So verfiel Vater auf einen Trick, er nahm heimlich diese Waren wieder aus dem Einkaufswagen heraus, Mutter merkte es tatsächlich nicht. Er machte sich nur etwas Sorgen, was denn die Leute denken könnten, wenn sie bemerkten, dass die Frau den Wagen voll packt und ihr Mann räumt alles wieder raus. Dieser Gedanke war ihm peinlich. Es sollte keiner merken, dass offensichtlich etwas nicht in Ordnung war.

Doch langsam wurde uns allen klar, ebenso Mutter, dass irgendwas nicht stimmen konnte. Noch rührten wir aber nicht an das Thema, wir machten uns nur Sorgen, ob es vielleicht doch das Alter war? Aber so gravierend? Konnte das tatsächlich sein?

In diese Zeit fiel ihre jährliche Reise zu Betty und deren Familie ins Ausland, sie freute sich sehr auf ihre geliebten Enkelkinder. Leicht besorgt berieten wir Schwestern, was wir für Mutter tun konnten, damit sie heil ankäme und ebenso wieder zurück. Sie flog vom Flughafen in der Stadt in meiner Nähe ab, Vater setzte sie in den Zug und ich holte sie am Hauptbahnhof ab, brachte sie direkt zum richtigen Abflugschalter am Flughafen, gab ihre Koffer auf und winkte ihr leicht besorgt hinterher, als sie lachend und voller Vorfreude im Sicherheitsbereich verschwand. Betty hatte einen Begleitservice bei der Fluggesellschaft organisiert, der sich um alles weitere kümmerte. Zurück sollte es ähnlich vonstatten gehen. Entgegen aller Befürchtungen klappten sowohl der Hin- als auch der Rückflug gut, sie genoss die Zeit in der Sonne und kehrte fröhlich wieder zurück. Als ich sie am Flughafen abholte, stand sie allerdings ohne Koffer vor mir.

„Mutter, wo ist denn dein Koffer?“ „Koffer? Welcher Koffer, ich habe keinen Koffer!“ Ich war ratlos: „Aber Mutter, natürlich hast du einen Koffer.“ „Nein!“ „Ja und wo sind bitte alle deine Kleider?“ Erst da wurde ihr klar, dass sie ihren Koffer vergessen hatte, dass auf jedem Flughafen ein Gepäckband ist, auf dem die Koffer nach dem Ausladen für die Fluggäste bereit gestellt werden, und dass sie dort hätte stehen müssen, um ihren Koffer in Empfang zu nehmen. Sie schlug sich in gespielter Verblüffung an die Stirn: „Also Hella, das gibt’s doch nicht, da hab ich doch tatsächlich den Koffer vergessen! Wie konnte mir nur so was passieren?!“

Bevor ich etwas sagen konnte, drehte sie sich um und verschwand durch die Sicherheitsschleuse, was eigentlich nicht erlaubt ist, und ich befürchtete, sie wird aufgehalten und bringt mit ihrer Verwirrung alles durcheinander. Sorgenvoll wartete ich und überlegte mir, was ich tun könne, würde sie nicht mehr erscheinen. Es dauerte jedoch nicht lange, und sie kam lachend mit ihrem Koffer erneut durch die Schleuse. Ich lachte mit ihr, aber von der Seite blickte ich immer wieder verstohlen zu Mutter hinüber. Wie hatte sie nur den Koffer vergessen können? Ach, redete ich mir ein, du hörst schon das Gras wachsen, so was kann doch mal passieren, sie hat eine anstrengende Reise hinter sich und sie ist ja nun nicht mehr die Jüngste. Damit wollte ich es bewenden lassen, brachte sie zum Zug und passte auf, dass der Schaffner sich ihrer annahm, damit sie sicher am Zielbahnhof von Vater in Empfang genommen werden konnte. Abends sprach ich allerdings am Telefon mit Betty darüber, die mir erzählte, dass Mutter bereits solche Schwierigkeiten beim Packen des Koffers gehabt hätte. Wir schwiegen uns eine Weile am Telefon an. Sollten wir uns ernsthafte Sorgen um Mutter machen oder übertrieben wir alles am Ende nur?

Die Reise lag einige Wochen hinter ihr, die Geschichte mit dem vergessenen Koffer war uns schon lange entfallen, da rief mich Vater an. Schon an seiner Stimme konnte ich erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war, er war furchtbar aufgeregt. Heute Morgen habe sich Mutter zu ihm an den Frühstückstisch gesetzt, ihn nachdenklich angeblickt und gebeten, ihr ehrlich zu sagen, was das hier sei, Frühstück oder Abendbrot.

Der Zeitpunkt war gekommen, an dem wir die Augen vor der Wahrheit nicht mehr verschließen konnten. Und auch Mutter merkte, dass etwas nicht in Ordnung war. So beschlossen wir, dass Vater mit ihr zum Arzt gehen sollte. Für einen Facharzt konnten sie sich nicht entscheiden, da alles zu weit weg war, aber der Arzt im Dorf, der könne doch sicherlich etwas genaueres sagen.

Wider Erwarten war der Arzt ein Experte in Sachen Demenz, hatte er doch seine eigene Mutter an Alzheimer dahinsiechen sehen, wie er sich ausdrückte. Das schlimmste sei für ihn gewesen, dass er als Arzt seiner eigenen Mutter nicht habe helfen können, auch wenn er durchaus gewusst habe, dass es gegen diese Krankheit keine Hilfe gebe. In den nachfolgenden Gesprächen, die er sowohl mit Vater als auch mit mir führte, bereitete er uns schonungslos auf das vor, was uns alle erwarten sollte. Seiner Einschätzung nach blieben Mutter noch drei Jahre, dann wisse sie nicht mehr, wo sie sei. Und wir sollten uns beizeiten mit dem Gedanken auseinander setzen, dass Mutter eines nicht zu fernen Tages nicht mehr zu Hause werde wohnen können.

Er überwies Mutter an eine neurologische Praxis, es wurden einige Tests mit ihr gemacht, dann folgte ein Gespräch mit einer einfühlsamen Ärztin. Dort wurde in Mutters Gegenwart zum ersten Mal das Wort „Demenz“ ausgesprochen. Sie war zwar erschrocken, doch auf dem Nachhauseweg lehnte sie alles ab, sowohl die Praxis, die Ärztin als auch den Befund. Das alles könne nicht sein, sie sei vergesslich, ja, das stimme, aber dement sei sie nicht. Was bilde sich diese junge Frau bloß ein, ihr so etwas zu sagen. Diese blödsinnigen Tests, die sie habe machen müssen, eine Uhr aufmalen, so ein Quatsch, und nur weil sie nicht gewusst habe, wie spät es gewesen sei, sei sie verrückt? Das dürfe ja wohl alles nicht wahr sein, das lasse sie sich nicht gefallen, sie sei gesund und damit basta. Vater saß schweigend neben ihr und nichts hätte er lieber getan, als seiner Frau zu glauben. Aber er hörte immer und immer wieder die Worte des Arztes, der seine Mutter an diese grausame Krankheit verloren hatte.

Ich entschloss mich spontan, meine Eltern zu besuchen, um ihnen in dieser schweren Zeit ein wenig beizustehen. Mutter freute sich sehr über mein Kommen, sie weinte, als ich aus dem Auto stieg. „Mir geht es gar nicht gut, Kind“, sagte sie leise. Man sah es ihr an. Die Fröhlichkeit war aus ihrem Gesicht gewichen. Ich versuchte, ihr die Woche, die ich Urlaub hatte, so schön wie möglich zu gestalten und sie abzulenken. Aber so recht wollte es mir nicht gelingen. Immer wieder weinte sie, nun sei sie dement, was das denn bedeute? Ob sie jetzt verrückt werde? Es wurde immer deutlicher spürbar, dass sich ihr Verhalten änderte, und ich sah jetzt auch, was sie alles nicht mehr konnte. Vater hatte immer mehr Tätigkeiten im Haushalt übernommen, weil Mutter nicht mehr wusste, was zu tun war. Sogar das Kochen war jetzt seine Aufgabe. Vater erinnerte sich genau an den Tag, an dem ihm klar wurde, dass er zukünftig auch dafür verantwortlich sein werde.

Er hatte im Garten gearbeitet und so richtig großen Hunger, am Vormittag hatten sie gemeinsam eingekauft und sich für Bratwürste mit fertigem Kartoffelsalat entschieden. Vater bat Mutter, ihm die Würste doch bitte jetzt schon zu braten, er sei sehr hungrig. Sie wand sich sichtlich und zählte Vater einige Dinge auf, die sie unbedingt noch erledigen müsse. Vorher könne sie nicht kochen. Er verstand sie nicht, er wollte doch nur essen, warum konnte sie nicht einfach für ihn das Essen zubereiten, wie sie das immer tat? Der Kartoffelsalat war doch schon fertig und lediglich die Bratwürste musste sie in die Pfanne tun. Warum nur argumentierte sie die ganze Zeit herum und auch noch so unverständliches Zeug. Er hatte dann so lange rumgemault, bis sie schimpfend in die Küche ging und dort mit den Töpfen hantierte. Das Ergebnis war eine fast rohe Wurst gewesen. Vater hatte mich daraufhin entsetzt angerufen und wir haben uns lange unterhalten. Er stellte dann das Essen auf Fertiggerichte um, da er ja nicht kochen konnte. Vater hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in seinem Leben kochen müssen und sah sich jetzt gezwungen, es langsam zu lernen. Heute ist er ein recht geschickter Koch geworden, es war für uns Töchter zunächst ein gewöhnungsbedürftiger Anblick, unseren Vater mit seiner halben Lesebrille in der Küche mit Töpfen und Pfannen werkeln zu sehen. Zeit seines Lebens rannte er mit einem Bleistift hinter dem Ohr und seinem Werkzeugkasten umher, und nun schwang er den Kochlöffel. Aber er hat es gelernt und sein Essen schmeckt uns allen.

Am Tag vor meiner Abreise, Vater und ich arbeiteten im Garten und Mutter hielt einen Mittagsschlaf, stand sie plötzlich hinter uns und weinte. Sie wolle so gerne helfen, aber sie könne nichts mehr, gar nichts. Sie wisse nicht mehr wie es gehe und dann weinte sie bitterlich. Sie setzte sich an den Terrassentisch und weinte und weinte. „Ich kann gar nichts mehr“, schluchzte sie und weinte weiterhin still vor sich hin.

Vater und ich standen bei ihr und sagten nichts. Wir waren ratlos, was hätten wir auch sagen sollen? Wie hätten wir sie trösten sollen? Vater fand keine Worte, er schwieg mit einem tieftraurigen Gesicht voller Schmerz und so gab ich mir einen Ruck: „Komm, Mutter, jetzt mache ich uns erst mal einen Kaffee, was hältst du denn davon?“ Die Ablenkung funktionierte, ihr Blick hellte sich auf und als ich mit dem frisch aufgebrühten Kaffee auf die Terrasse kam, hatte sie schon alles vergessen. Aber dann wurde sie furchtbar wütend, die Frau solle sich noch mal blicken lassen, die ihr das Denken weggenommen habe!

 

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