wenn Väter alt werden

Eigenbrötler. Suppenhuhn. Zu dumm, um aus der fahrenden Straßenbahn zu gucken, oder um einen Eimer Wasser umzuschmeißen. Länglich. Reell. Stur wie ein Esel. Betonkopf. Meister Hämmerlein. Schrei doch nicht so. Das Rübezahllied. Jenseits des Tales. Das sind alles Worte, Sätze, die mir zu meinem Vater einfallen. Die er gesagt hat, die zu ihm oder über ihn gesagt wurden. Er war zeitlebens ein Eigenbrötler, schon als Kind. Er räumte seine Spielsachen in den Schuppen, wenn andere Kinder zu Besuch kamen. Er wollte mit niemandem teilen, so erzählte er es mir. Und wenn ich nicht gleich begriff, was er wollte, war ich ein Suppenhuhn. Machte ich etwas falsch, war ich zu dumm, um… In meiner Pubertät nannte er mich Länglich, weil ich so groß und dünn war, schlaksig eben. Wenn man Ideen hatte, Pläne, Vorstellungen, so mussten diese reell sein, sonst taugten sie nichts. Mutter sagte oft ziemlich genervt „euer Vater ist stur wie ein Esel“ und nannte ihn ebenso oft einen Betonkopf. Die Nachbarschaft nannte ihn Meister Hämmerlein, weil er immerzu am Haus herumwerkelte. Sommers wie winters, Werktags wie sonntags. Und er hatte eine ausgesprochen laute Stimme. Mindestens einmal am Tag sagte Mutter zu ihm „schrei doch nicht so“.

Und jetzt ist er alt. Wird immer vergesslicher, fragt mich ständig, was für ein Tag heute sei, was es zu essen gebe, ob die Geschäfte auf hätten. Ständig. Er wohnt in der Wohnung über mir, im Haus meiner Großeltern, seiner Eltern. Wo er mit 17 Jahren die damals erforderlichen Eigenleistungen erbrachte, weil sein Vater als Büromensch „vom Amt“ zwei linke Hände hatte. Wo er nebenan ein Haus für sich und seine Familie baute. Lange verkauft, 15 Jahre haben meine Eltern im wunderschönen Wendland gewohnt, und als er dann allein war, merkte, er kommt nicht mehr gut zurecht, kam er zurück. Und fühlte sich gleich wieder als Eigentümer, als Bestimmer. Als der, der alles regelt. Nach seinen Vorstellungen.

Ich war so froh, meine übergriffige, aber durchaus auch fürsorgliche Familie in weiter Ferne zu wissen, als er plötzlich vor meiner Türe stand. Er könne nicht mehr allein wohnen. Und ich hörte die Stimme meiner Großmutter hinter mir flüstern, dann lass ihn halt rein und mach ihm was zu essen, so wie ich es Jahrzehnte für ihn und für dich gemacht habe und wie du es nun für ihn machen wirst.

Und so war er wieder da, der laute, sture Betonkopf, der meine Ordnung im Haus auf den Kopf stellte, weil er sich alles anders vorstellte. Der wusste, was sich gehört und was nicht und für den Glyzinien nur Gestrüpp waren und der sie darum abschnitt, des Nachbarn sorgsam gehegte Pflanze, die vom dortigen Vordach herüberwuchs über meins und die unsere nebeneinander liegenden Eingänge verschönerte.

Einfach abgesägt. Ohne zu fragen, ohne auf andere zu achten. So wie er immer schon war, ein Eigenbrötler, ein sturer Esel, der macht, was er will, ein Betonkopf.

wenn Väter alt werdenHeute merkt man nicht mehr viel davon, weil er alt ist, wirklich alt, weil er so ziemlich alles vergisst. Immerzu ruft er an und fragt, was für ein Tag sei und ob die Geschäfte auf hätten. Gestern war ich mit meinem Wandersmann italienisch essen, dreimal klingelte mein Handy, was für ein Tag… weil Ostern und die Feiertage seine Wochenplanung völlig durcheinander brachten.

Meister Hämmerlein gibt es nicht mehr. Er kann das nicht mehr. Ich sehe seine Kräfte schwinden, was einerseits natürlich ist, aber andererseits auch absolut erstaunlich. Mein Vater hat immer alles so gemacht, wie er es wollte, komme, was wolle, er war der Bestimmer, so nannten wir es, er bestimmte. Und nun verblasst das alles, das, was man kannte, was immer da war, was immer auch eine Richtschnur war, ist fort.

Eine Kollegin sagte mal zu mir, für ihren Vater, der immer alles regelte, der immer organisierte, der immer der „Starke“ in der Familie war, für den müsse sie nun alles regeln. Das sei so und das sei auch durchaus natürlich, aber da sei eine Stimme in ihr, die das mit völliger Verwunderung versuche zu verstehen.

Da fällt was weg. Eine Sicherheit, die es ja schon lange gar nicht mehr gab. Ich erinnere mich noch, ich war noch nicht in der Schule, es war Winter, er ging mit mir Schlitten fahren, an einem Sonntag, im Dorf gab es einen landwirtschaftlichen Weg, der von einer Anhöhe weit hinunter ins Tal führte, ideal für Kinder und Jugendliche. Es war massig was los, anders als heute, wo man kaum noch Kinder auf der Straße sieht. Wir saßen auf unserem Schlitten, ich vorn, er hinter mir, und wartenten darauf, dass wir dran kamen, da kamen junge Leute lachend und lärmend an uns vorbei und einer achtete nicht auf den Schlitten, den er über der Schulter trug und rempelte mich damit an. Sofort stand Vater auf und blickte den jungen Kerl nur an, der sich sogleich wortreich entschuldigte. Und ich saß da und dachte wirklich, wenn jetzt eine Horde wilder Bären käme, er würde sie in die Flucht schlagen, er würde mich beschützen, mir könne nichts passieren. Das war mein Gefühl damals, das hat mich viele Jahre getragen, bei aller unverhältnismäßigen Sturheit, die er immer wieder an den Tag legte, ich fühlte mich auch aufgehoben.

Bevor wir in das Haus meiner Großeltern zogen, wohnten wir in einer kleinen Mietwohnung ein Dorf weiter. Dort brachte er mich abends immer ins Bett, mangels Platz schlief ich im Elternbett. Er legte sich neben mich, ich rollte mich in seiner „Bauchkuhle“ ein, wie ich es nannte, und dann sang er mir Lieder vor. Weil er Kinderlieder weder kannte noch das „Geplänkel“ für sinnvoll hielt, hörte ich allabendlich diese beiden Volkslieder

Das Rübezahllied

Hohe Tannen weisen die Sterne
An der Iser in schäumender Flut.
Liegt die Heimat auch in weiter Ferne,
Doch du, Rübezahl, hütest sie gut.

Hast dich uns auch zu eigen gegeben,
Der die Sagen und Märchen erspinnt,
Und im tiefsten Waldesfrieden,
Die Gestalt eines Riesen annimmt.

Komm zu uns an das lodernde Feuer,
An die Berge bei stürmischer Nacht.
Schütz die Zelte, die Heimat, die teure,
Komm und halte bei uns treu die Wacht.

Höre, Rübezahl, lass dir sagen:
Volk und Heimat sind nimmermehr frei.
Schwing die Keule wie in alten Tagen,
Schlage Hader und Zwietracht entzwei.

Jenseits des Thales standen ihre Zelte,
Vorm hohen Abendhimmel quoll der Rauch,
Und war ein Singen in dem ganzen Heere,
Und ihre Reiterbuben sangen auch.

Sie putzten klirrend am Geschirr der Pferde,
Hertänzelte die Marketenderin,
Und unterm Singen sprach der Knaben einer:
‚Mädchen, du weißts, wo ging der König hin?‘

Diesseits des Tales stand der junge König
Und griff die feuchte Erde aus dem Grund,
Sie kühlte nicht die Glut der armen Stirne,
Sie machte nicht sein krankes Herz gesund.

Ihn heilten nur zwei knabenfrische Wangen
Und nur ein Mund, den er sich selbst verbot,
Noch fester schloß der König seine Lippen
Und sah hinüber in das Abendrot.

Jenseits des Thales standen ihre Zelte,
Vorm roten Abendhimmel quoll der Rauch,
Und war ein Lachen in dem ganzen Heere,
Und jener Reiterbube lachte auch.

Das Rübezahllied ist ein schlesisches Volkslied, das andere eine Ballade, die um 1900 entstanden ist. Beides Lieder der bündischen Jugend der Weimarer Republik. Ich höre seine Singstimme noch heute. Das ist jetzt über 60 Jahre her.

Die Zeit vergeht. So ist das nun mal. Manchmal fällt mir das leicht und manchmal nicht.

Und wenn er mich zum x-ten Male am Tag fragt, was heute für ein Wochentag ist, dann spüre ich eine Verunsicherung, dass etwas fort sein kann, was mich all die Jahre getragen hat, seine väterliche Sicherheit.

 

 

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