Die Seitenkrankheit

Es ist, betrachtet man das Universum, einige Millisekunden, wenn überhaupt, her, dass die Menschen an der Seitenkrankheit starben. Sie galt als unheilbar und todbringend. Vermutlich handelte es sich meist um eine Blinddarmentzündung. Während meiner Kinderzeit lagen Schulkameraden und Kameradinnen deswegen eine Woche im Krankenhaus, durften erst nicht aufstehen und hatten fortan eine Narbe knapp unter dem Rand der Badehose. Es hieß immer sofort zum Arzt, es kann sonst schlimm werden.

Wir Kinder stellten uns vor, dass sich dort Apfelkerne sammeln und darum wurden Kerngehäuse nicht gegessen. Zu gefährlich 😉

Heute geht man ins Krankenhaus, lernt die Schlüsselloch-Chirurgie kennen, drei kleinere Hautschnitte werden gemacht, dort werden Röhrchen durchgeschoben, eine Kamera und die nötigen OP-Instrumente, und schwupps, ist das entzündete Ding weg, und wenn man wieder gerade laufen kann, geht man nach Hause.

Früher tot, heute schwupps. So ändern sich die Zeiten.

Mein Wandersmann und ich versuchen gerade, damit fertig zu werden. Gedanklich. Emotional, was weiß ich, irgendwie so. Es gelingt uns, auch irgendwie so. Nein, von Blinddarm ist nicht die Rede, es geht um eine (Ihr lest richtig!) koronare Hauptstammstenose. Bis gestern wussten wir noch gar nicht, dass es so was gibt, geschweige denn, dass man das kriegen kann. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich die Verengung (Stenose) des Hauptstammes der linken Koronararterie. Heißt, einer wichtigen (oder der wichtigsten) Arterie, ohne die das Herz nicht mehr mit Blut versorgt wird. Und dann ist Schicht, ohne Blut tot, kein schwupps. Tot.

Früher ist man daran gestorben. Herzinfarkt. Von jetzt auf gleich, keine Blutversorgung, Arterie war zu, Herz stirbt. Mensch gleich mit. Ende. Das versuchen wir grad zu verstehen, dass es knapp war, sehr knapp, eine Stunde war mein geliebter Wandersmann im OP, er war bei Bewusstsein, der Arzt hat ihm alles gezeigt, hat einen flexiblen Stent gesetzt, was ganz Modernes, sonst wäre ein Bypass fällig gewesen und das hätte aufsägen bedeutet und da wird mir jetzt noch ganz schlecht. Das genau ist der Schwupps.

Zur Beobachtung haben sie ihn eine Nacht dabehalten. Noch mal Untersuchungen mit den modernen Apparaten, ein weiterer Stent an einer etwas unwichtigeren Stelle, die zudem nur ein wenig verengt ist, folgt in 4 Wochen, aber jetzt braucht das Herz erst mal Erholung. Nicht nur das Herz, wir alle,
💜 + Wandersmann + Frau = 🏖️

Die Entlassungspapiere wurden ihm überreicht, Pillen in ausreichender Menge mitgegeben und dann fuhren wir nach EDEKA. Und als wir da so durch den Laden marschierten, da fing die Verwirrung an. Wo sind wir hier? Was machen wir hier? Das Leben geht weiter. Schwupps hat gewonnen. Moderne Medizin. Schlüsselloch. Keine Einschränkung. Natürlich dürfen sie wieder joggen, lieber Patient, dafür sind sie doch hier. Was brauchen wir? Ein Liter Milch. Sollen wir noch Brot kaufen? Den Herzinfarkt hätten sie nicht überlebt. Wurst auch? Und Käse? Schwupps.

Vor 14 Jahren wurde ich Witwe, es war eine harte, wirklich eine verdammt harte Zeit. Ich habe sie überlebt, aber ich habe Federn gelassen. Mein damaliger Mann war ein medizinischer Verweigerer, daran ist er letztlich gestorben. Ihm hätte geholfen werden können, aber sein Leben war geprägt durch ein großes Misstrauen jeglichen Behandlern gegenüber. Lieber litt er, als dass er sich in deren Hände begab. Das kostete ihm das Leben.

Nun ist mein Wandersmann GOTT SEI DANK komplett anders, ist er beruflich auch einer der Behandler gewesen, wenn auch nicht somatisch, wie das in der Fachsprache heißt, aber für ihn gehört das zum Leben. Er kann damit umgehen. Er sieht es als Möglichkeit und nicht als etwas Feindliches. Das hat ihm, verbunden mit einem aufmerksamen Hausarzt, das Leben gerettet. Denn es war knapp.

Und doch, wir werden, bei allem Glück, noch eine Weile brauchen, um das alles zu verarbeiten. Morgens die Konfrontation mit dem möglichen Ende des bisherigen Lebens, abends EDEKA. Das ist so surreal. Und doch so wahr.

 

Die Seitenkrankheit
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